Vom Sehen und Gesehenwerden von yamimaru ================================================================================ Kapitel 22: Kako – Vergangenheit -------------------------------- Reita:   Ich lehne im Türrahmen zum Wohnzimmer, während sich die vorherrschende Ruhe im Raum nach und nach auf mich überträgt. Seit ich weiß, dass Uruha auch am morgigen Weihnachtsabend bei uns sein wird, steigt mit jedem verstreichenden Tag meine Nervosität. Gerade jedoch fühle ich mich ausgeglichen und das habe ich Aoi zu verdanken. Er ist es nämlich, auf dem meine Augen seit Minuten ruhen, ohne dass ich es über mich gebracht hätte, ihn zu stören. Vor den Fenstern ist es bereits dunkel geworden und nur der Schein des Kaminfeuers erhellt die Szenerie. Er hat es sich auf der Chaiselongue bequem gemacht, seine langen Beine ausgestreckt und eine Wolldecke über sie gelegt. Im Hintergrund singt Bing Crosby mit leiser, tiefer Stimme von einer weißen Weihnacht und in Aois Schoß ruht ein ringgebundenes Buch. Die Augen hält er geschlossen, seine Finger tasten über die Seiten und sein Mund bewegt sich mit jedem Wort, das er liest. Stolz schwillt in meiner Brust und vertieft das Lächeln, welches seit einer Weile auf meinen Lippen liegt. Mein starker, unerschütterlicher Blue. Die vergangenen Monate waren hart für ihn … für uns, aber für keinen Moment habe ich an ihm gezweifelt. Er musste sich in seinem Leben der Augen wegen schon so oft auf neue Gegebenheiten einstellen und immer neue Hürden überwinden, dennoch wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er auch dieses Mal gestärkt daraus hervorkommen würde. Waren wir zeitweise gereizt, weil wir nicht wussten, wohin mit unseren Emotionen? Sicher. Habe ich mich manchmal gefühlt, als würde ich zu kurz kommen? Ja. War Aufgeben eine Option? Nein, für keinen von uns. Ich klopfe leise gegen das Holz, um mich anzukündigen, und stoße mich ab. Erst jetzt bemerkt er mich, so vertieft war er in seine Lektüre.   „Hi, whatcha doin?“   „Mmh, nur etwas üben“, murmelt er schläfrig klingend und zieht die Beine an, als ich mich zu ihm setze. Ich hingegen stehle eine Hand unter die Decke, taste nach seinem rechten Fuß und fasse zu, als er ihn mir leise lachend entziehen will. „Nicht kitzeln“, fordert er, aber das hatte ich gar nicht vor. Mit Nachdruck ziehe ich seinen Fuß auf meine Beine und beginne damit, ihn zu massieren. Aoi trägt hellgraue, flauschige Socken, die ihn in Kombination mit der ebenfalls grauen Jogginghose und dem weißen Strickpullover ungemein gemütlich aussehen lassen. Wohlige Wärme sammelt sich in meinem Magen, die beinahe überkocht, als er ein hingerissenes Stöhnen von sich gibt. „Uhm, Rei, das hast du schon ewig nicht mehr gemacht.“   „Mhmh, ich weiß.“ Ich schenke ihm ein Lächeln, als sich sein zweiter Fuß erwartungsvoll auf meinen Schoß mogelt, während er versucht, wieder in seinen Text zu finden. Dass dieses Unterfangen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, sage ich ihm ausnahmsweise nicht. Mit dem nächsten Druck meines Daumens in sein Fußgewölbe gibt er auf, schiebt das Buch von sich und lehnt sich erneut aufstöhnend tiefer in die Polster.   „Hast du vor, wegzufahren?“, fragt er einige Momente später, was vermutlich dem Rascheln meiner Jacke geschuldet ist, die ich mir vorhin zum Rauchen übergezogen und noch nicht wieder abgelegt habe.   „Ja. Ich werde unseren liebsten Bücherwurm heute nicht schon wieder mit den Öffentlichen zu uns fahren lassen.“   „Hat Uruha gestern nicht gemeint, dass das nicht nötig wäre? Wenn ich mich recht erinnere, hat er es dir sogar verboten, weil er nicht will, dass du bei dem Wetter mit dem Wagen unterwegs bist.“   „Hat er? Ich hab nichts gehört.“   „Du bist schlimm.“ Aoi lacht und boxt mir leicht gegen die Schulter. „Dann fahr aber bitte wirklich extra vorsichtig, ja? Für später am Abend ist wieder Schnee angekündigt.“   „Das mach ich, Ehrenwort.“ Ich streichle sein Bein hinauf, tätschle die Wade zur Untermalung meiner Worte, bevor ich mit meiner Massage fortfahre.   „Ich besorge auf dem Weg was zu essen, wonach wäre dir denn?“   „Überrasch mich, du weißt meist besser als ich, was ich will.“ Das Lächeln, welches Aoi seinen Worten hinterherschickt, versetzt meinen Magen in Aufruhr. Ein kleiner Teil in mir ist versucht, sich über ihn zu schieben, damit ich meine Massage auf seinen gesamten Körper ausweiten kann, bis er mich nicht mehr nur mit wohligem, sondern deutlich lustvollem Stöhnen beglückt. Aber das wird warten müssen, denn der weitaus größere Teil verlangt bereits den ganzen Nachmittag lautstark nach Uruha und kann es nicht erwarten, ihn wiederzusehen. Innerlich rolle ich die Augen über mich selbst. Ich tue gerade so, als hätte ich Uruha Tage nicht gesehen, was definitiv nicht der Fall war, schließlich war er erst gestern hier.   „Okay, dann lasse ich mir was einfallen. Sonst irgendeinen Wunsch?“   „Mein einziger Wunsch fängt mit Uruha an und hört mit Reita auf.“ Wieder dieses Grinsen. Er setzt es heute wirklich darauf an, mich zu provozieren. Ich knurre leise, als ich mich nun doch über ihn schiebe und ihm eben jenes Grinsen von den Lippen küsse.   „Das sollte sich einrichten lassen“, nuschle ich halb in seinen Mund und erschauere, als seine langen Finger beginnen, mich im Nacken zu kraulen.   ~*~   Ich hatte befürchtet, zu spät dran zu sein, hatte mich jedoch an mein Versprechen gehalten und war umsichtig gefahren. Dementsprechend erleichtert war ich, als ich vor einigen Minuten vor dem noch immer hell erleuchteten Kiseki angekommen bin. Gemütlich an eine Werbesäule gelehnt und rauchend beobachte ich eine Mutter, die mit ihrer kleinen Tochter an der Hand in diesem Moment den Laden verlässt. Ein Schmunzeln zupft an meinen Mundwinkeln. Uruha ist ein herzensguter Kerl und würde nie ein Kind aus seinem Wunderland der Worte scheuchen, nur weil er pünktlich Feierabend machen will. Gerade als ich mir denke, ihm im Laden Gesellschaft zu leisten, um der Kälte für ein paar Minuten zu entfliehen, erlischt die Beleuchtung. Mein Schmunzeln verwandelt sich in ein Grinsen. Herzensgut ist Uruha, aber eilig scheint er es dennoch zu haben. Der aufgerauchte Zigarettenstummel landet im Gully rechts von mir und ich stoße mich ab, als seine hochgewachsene Gestalt in der Tür des Ladens erscheint. Trotz Mantel und dickem Schal erkenne ich selbst aus der Entfernung seine fröstelnd hochgezogenen Schultern.   „Hi Handsome, so allein hier?“   „Reita!“ Erschrocken wirbelt er zu mir herum, seine Schlüssel fallen klirrend zu Boden. Ich grinse, bücke mich nach dem Bund und halte ihn Uruha hin.   „Immer zu Diensten. Hier.“   „Ehm … danke.“ Er nimmt die Schlüssel an sich, dreht sich noch einmal zur Tür und sperrt ab. Eine leichte Röte hat sich über seinen Nasenrücken geschlichen, von der ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob ich daran schuld bin oder nur die Kälte. „Was fällt dir ein, mich so zu erschrecken?“ Er versucht sich an einem tadelnden Tonfall, aber das Lächeln auf seinen Lippen und das erfreute Funkeln in den Augen lassen seine Worte vielmehr wie ein, „Ich freue mich, dich zu sehen“, klingen.   „Jetzt ist dir warm, oder?“   „Was meinst du?“   „Na, du sahst so verfroren aus, dagegen musste ich etwas tun. Nach dem Schrecken ist dir jetzt sicher wärmer.“   „Oh, du unmöglicher Man.“ Uruha schüttelt den Kopf, lässt aber zu, dass ich einen Schritt auf ihn zumache und ihm übers Haar streichle, wo sich erste freche Schneeflocken verfangen haben. Die Röte intensiviert sich – also bin doch ich an ihr schuld, wie schön. „Was machst du überhaupt hier.“   „Dich abholen, Silly.“   Er öffnet den Mund, aber ich lasse keine Proteste zu und ergreife seine Hand, um ihn hinter mir her zum Auto zu ziehen. Für einen Begrüßungskuss tummeln sich eindeutig zu viele Passanten auf dem Gehweg, aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben.   ~*~   Bewundernd lausche ich der melancholischen Melodie, die Uruhas Finger der Akustikgitarre entlocken. Sein Spiel weiß mich mindestens so in seinen Bann zu ziehen, wie sein Vorlesen. Ich hätte es besser wissen müssen, als Aoi nach dem Abendessen darum zu bitten, uns etwas vorzuspielen. Das war dumm von mir. Jetzt, wo er begonnen hat, die Blindenschrift zu lernen, muss er sich alles verkneifen, was das Gefühl in den Fingerkuppen beeinträchtigen könnte. Die Sehnsucht nach etwas, das ihm früher immer Trost gespendet hat, lag so unverzüglich in seinen Augen, dass ich meine Worte am liebsten ungeschehen gemacht hätte. Aber bevor die Stimmung hatte kippen können, hatte Uruha sich angeboten, zu spielen. Und Himmel, ist er gut. Ich streichle über Aois Handrücken, ergreife seine Finger und ziehe sie gegen meine Lippen, um einen kleinen Kuss auf die Knöchel zu hauchen.   „Verzeihst du mir meine unüberlegten Worte von vorhin?“ Er lehnt sich gegen mich, die Augen geschlossen und ein Lächeln auf den Lippen, als hätte ich ihn gerade um etwas Dummes gebeten.   „Gäbe es etwas zu verzeihen, hätte ich das längst getan.“ Blinzelnd heben sich seine Lider, er sieht mich an und drückt mir einen Kuss auf den Mundwinkel. Uruha lässt den letzten Akkord des Liedes ausklingen und stellt die Gitarre beiseite, um nach seinem Tee zu greifen und einen Schluck zu trinken. „Du spielst unglaublich gut“, spricht Aoi aus, was ich eben gedacht habe.   „Ja.“ Ich nicke. „Wie lange spielst du bitte schon?“ Verschämt senkt Uruha den Kopf, aber ich kann das glückliche Funkeln in seinen Augen erkennen. Er freut sich über das Kompliment, auch wenn er das nicht sagen kann.   „Ich habe mit sechs angefangen, Stunden zu nehmen. Als Teenie war ich auch der festen Überzeugung, in eine Rockband einzusteigen und berühmt zu werden.“ Für einen kurzen Moment hat er den Kopf gehoben, Aoi und mich offen angesehen, aber nun legt sich ein Schatten über sein Gesicht. „Doch diesen Traum habe ich mir selbst verdorben. Im Showbiz zählt das Aussehen mehr als Talent.“ Reflexartig schiebt sich seine Hand über die linke Wange, um seine Narbe dahinter zu verbergen.    „Pah, ihr Verlust!“, raunze ich angriffslustig, was Uruha tatsächlich zu einem kleinen Lächeln verleitet. „Nee, im Ernst. Ich hoffe, das hat nie jemand zu dir gesagt, sonst werde ich mich in deinem Namen mit ihm oder ihr anlegen müssen.“   „Das ist lieb von dir, aber nicht nötig.“   „Hattest du einen Unfall?“, fragt Aoi, direkt wie er manchmal ist. Ich ziehe ihn mit mir, damit ich näher an Uruha heranrücken und einen Arm um seine Mitte legen kann. Er schenkt mir ein Lächeln, lehnt seinen Kopf an meine Schulter und sucht nach Aois Hand, die er fest umschließt. „Tut mir leid, wenn ich zu direkt war“, murmelt mein Blue zerknirscht, aber Uruha schüttelt sacht den Kopf.   „Du warst nicht zu direkt, alles gut. Es ist nur … Ich habe noch nicht oft darüber gesprochen“, wispert er und atmet tief durch, bevor er weiterredet.  „Ich war mit zwölf der Jüngste in unserer Clique und immer gierig darauf, mir und den Älteren zu beweisen, wie toll ich bin. Skateboard fahren war mein Leben. In unserer Nachbarschaft gab es dieses verfallene Haus, das kurz vor dem Abriss stand. Meine Eltern hatten mir verboten, dort mit dem Board herumzufahren, aber ich wusste es natürlich besser als sie. Wir hatten Spaß dort, haben uns aus alten Holzbalken Sprungschanzen gebaut oder sie als wacklige Brücken von einem Schutthaufen zum anderen gelegt. Die gesamten Sommerferien über war ich deswegen kaum zu Hause. Wie oft ich mir seither gewünscht habe, dass mich meine Eltern damals erwischt hätten, kann ich gar nicht sagen. Aber sie hatten zu viel mit ihrem Lebensmittelgeschäft um die Ohren, dass ihnen nichts aufgefallen ist.“   „Der Kaufmann liegt dir also im Blut, was?“, stelle ich fest, um Uruhas fast greifbare Anspannung etwas abzumildern.   „Ja, so kann man das sagen.“ Ein kleines Schmunzeln vertreibt für einen Moment den verhärmten Ausdruck, der sich während seiner Erzählung auf sein Gesicht geschlichen hat. Er räuspert sich und strafft die Schultern. „Wir haben uns ständig verletzt und Stürze waren an der Tagesordnung, aber wirklich passiert ist uns nie etwas. Bis einer der Holzbalken unter meinem Board nachgab und ich in scharfkantigem Metallschrott gelandet bin. Mein Gesicht … hat das meiste abbekommen, worüber ich froh sein kann, immerhin hätte es auch schlimmer ausgehen können, aber … nun ja.“   „Oh Uruha“, murmle ich, Mitgefühl schwer in meiner Brust, weil ich merke, wie sehr er sich selbst heute noch für seine kindliche Dummheit verachtet. „Du warst ein Kind, noch nicht mal ein Teenager, die machen dumme Sachen.“   „Ja, das stimmt wohl.“ Er zieht die Nase hoch, aber seine Augen sind trocken, als er erst mich, dann Aoi ansieht. „Der Unfall selbst war nicht einmal das Schlimmste. Es waren die Reaktionen der Menschen in meinem Umfeld. Meine Eltern haben mich jahrelang zu den verschiedensten Ärzten geschleppt, um mit eher mäßigem Erfolg zu versuchen, wieder alles in Ordnung zu bringen.“ Mit den Fingern malt er Anführungszeichen in die Luft, die den letzten Worten seines Satzes gelten. „Und für meine Mitschüler gab es nur zwei Varianten, mit mir umzugehen – Mitleid oder Abscheu. Später sind liebe Freunde in mein Leben getreten, wie Ruki und Kai … dann auch ihr beide, aber …“ Er schüttelt den Kopf, als ihm die Stimme versagt, doch er muss auch nicht weitersprechen.   „Das ist so ungerecht“, zische ich, die Wut auf alles, was Uruha ertragen musste, auf jeden, der ihn in der Vergangenheit verletzt hat, heiß in meinem Magen. Ich streichle über seinen unteren Rücken, um ihn zu trösten oder mich zu beruhigen, kann ich nicht sagen.   „Das …“ Aoi schüttelt den Kopf und auch in seinem Gesicht spiegelt sich die Fassungslosigkeit. „Es gibt nichts an dir, was in Ordnung gebracht oder bemitleidet werden müsste und … Abscheu? Wenn du mich fragst, haben manche Menschen es nicht verdient, funktionierende Augen zu haben. Jeder, der deine Schönheit nicht erkennt, ist ein bedauernswerter Idiot.“   „Aoi“, haucht er und ich muss mich bemühen, mir nicht anmerken zu lassen, dass meine Augen gerade verräterisch feucht geworden sind. Wie schafft Blue es nur immer wieder, die richtigen Worte zum richtigen Zeitpunkt zu finden? Plötzlich lehnt Uruha noch stärker gegen mich, Aoi tut es ihm gleich und ich lege wie automatisch beide Arme um ihre Schultern. Eine Drei-Wege-Umarmung mag sich für einen Außenstehenden ungemütlich anhören, ich für meinen Teil kann mir gerade nichts Schöneres vorstellen. Aois Lippen haben die Uruhas gefunden und bevor mir einleuchtet, was er vorhat, hat er ihn höher dirigiert, sodass ich nun beide Männer küssen kann. Auch das … keine Worte.   ~*~   „Aber jetzt …“, meldet sich Uruha eine unbestimmte Zeit später und herrlich atemlos zu Wort und sieht Aoi und mich auffordernd an, „… will ich wissen, wie ihr euch kennengelernt habt.“ Aoi lacht auf und wirft mir einen verschmitzten Seitenblick zu.   „Unsere Schulhofschlägereien waren legendär, nicht Rei?“   „Bitte was?“ Verdattert folgt Uruha Aois Blick und ich kann nicht anders, als das herzhafte Lachen freizulassen, das in meiner Kehle kitzelt.   „Das waren sie, Blue, das waren sie.“   „Weiter?“ Es ist unheimlich niedlich, wie fordernd Uruha sein kann, wenn er etwas wissen will.   „Wollt ihr noch Tee? Ich kann schnell in die Küche huschen und noch einen aufsetzen. Kekse müssten wir auch noch haben.“   „Nein, mein Lieber.“ Mit einer Hand auf meiner Brust verhindert Uruha effektiv, dass ich aufstehe. „Ihr könnt nicht so eine Bombe platzen lassen und mich dann mit Tee und Keksen abspeisen. Das geht nicht.“   „Na schön“, gebe ich mich lachend geschlagen und sinke zurück in die weichen Polster des Sofas. „Soll ich erzählen, oder willst du?“   „Mach ruhig.“ Wieder einmal vereinnahmt Aoi den meisten Platz auf der Couch für sich, macht sich lang und legt den Kopf auf meine Beine, noch immer Uruhas Hand haltend. Wie automatisch finden meine Finger den Weg in sein Haar, streicheln durch die weichen Strähnen. Wie ich es liebe, wenn er so kuschelbedürftig ist und ich sehen kann, wie er sich mit jeder verstreichenden Sekunde mehr entspannt. Also beginne ich, zu erzählen.   Meine Worte und Gedanken führen mich zurück in die Vergangenheit, zu dem Moment, als ich mit meinen Eltern aus Michigan hierhergezogen bin. Zu meinen ersten Tagen auf der neuen Schule und schlussendlich zu dem reichen Schnösel, der eine Klasse über mir war. „Einen so schönen Jungen hatte ich noch nie gesehen. Alle und ich meine wirklich alle Schüler hatten zu der Zeit mit Pickeln zu kämpfen, aber nicht unser Blue hier. Ein Teint wie Schneewittchen persönlich.“   „Übertreib nicht.“   „Tu ich nicht. Dank großzügiger Spenden seiner Eltern konnte der Her auch die Schulregeln lockerer auslegen als wir Normalos, also hatte er die Haare schulterlang und schwarz-blau gefärbt. Sah schon echt gut aus, hätte ich ihm damals aber nie gesagt.“   „Natürlich nicht“, nuschelt Aoi trocken und Uruha versteckt sein Grinsen hinter einer Hand. Auch mich amüsiert der Gedanke an mein vergangenes Verhalten, also rede ich munter weiter. Ich erzähle davon, dass ich Aoi unbedingt näher hatte kennenlernen wollen und wie wenig ich mein Glück fassen konnte, als ich herausfand, dass er Captain der Fußballmannschaft war.   „Zu dem Zeitpunkt haben sie einen neuen Stürmer gesucht. Keine Frage, dass ich mein Glück versuchen musste“, sage ich an Uruha gewandt und schnippe Aoi leicht gegen die Wange. „Aber natürlich musste es mir Captain Aoi schwer machen und hat mich dreimal antanzen lassen.“   „Du warst eben schlecht.“   „Ich war der Beste und das wusstest du.“   „Du warst zu aggressiv.“   „Okay, das kann ich nicht leugnen.“   „Und was war dann? Ich meine, Reita hat es in die Mannschaft geschafft, oder?“ Wir nicken. „Warum habt ihr euch dann geprügelt?“   „Weil Aoi ein arroganter Sack war.“   „War ich nicht.“   „Na schön. Ich dachte, er wäre ein arroganter Sack und er war zu überheblich, mir zu sagen, dass ich ein Idiot war.“   „Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.“   Ich grinse breit, lasse mich tiefer gegen die Rückenlehne sinken und sehe an die Decke. Beinahe glaube ich, Aois vor Wut gerötetes Gesicht wieder vor mir sehen zu können, kurz bevor die erste Faust in meine Richtung geflogen kam. Also berichte ich davon, wie ich über Wochen versuchte, mich mit Aoi anzufreunden. Wie er stets ohne Blickkontakt an mir vorbeistolzierte, nie reagierte, wenn ich ihm zuwinkte und generell so tat, als würde er mich nicht kennen.   „Ah, ich glaube, mir geht ein Licht auf“, murmelt Uruha und streichelt Aoi über die Stirn. „Du hast damals schon schlecht gesehen, oder?“ Auf Aois Lippen liegt das ihm so eigene Lächeln, welches ihn immer geheimnisvoll und allwissend zugleich wirken lässt. Oh, ich erinnere mich daran, wie sehr mich dieses Lächeln früher zur Weißglut bringen konnte. Nun liebe ich es.   „Ja. Ich war damals verdammt gut darin, meine Sehbehinderung zu verbergen, und da hat es geholfen, dass mich alle für unnahbar hielten. Ich hatte auch kein gesteigertes Interesse, daran etwas zu ändern.“   „Darum auch unsere Schlägereien.“   „Ja, weil du mir mit deiner Art damals schon unter die Haut gegangen bist, und alles hättest auffliegen lassen können.“   Ich schnurre leise, den Blick auf Aois feurig funkelnde Augen gerichtet. Auch er scheint sich gerade ein wenig in unserer gemeinsamen Vergangenheit zu verlieren. Ich gönne mir den Spaß, seine Lippen mit dem Zeigefinger nachzuzeichnen und wie erwartet, gräbt er keinen Moment später seine Zähne in meine Fingerkuppe.   „He, au.“   „Ach was.“   Uruha lacht. Ich blinzle verdutzt, bevor sich ein glückliches Lächeln auf meine Lippen schleicht. Er lacht tatsächlich. Herzhaft und ohne sich die Hand vor den Mund gelegt zu haben. Himmel, wie schön er ist, wie wundervoll dieser Laut in meinen Ohren klingt. Aoi blinzelt und küsst meine Fingerkuppe. Seine Augen sagen so etwas wie, ‚gut gemacht‘, und ich lächle stumm in mich hinein.   „Und wie …“ Uruha gluckst noch einmal leise und wischt sich über die Augenwinkel. „Wie seid ihr vom wir-schlagen-uns-die-Köpfe-ein zu einer Freundschaft gekommen?“   „Ich hab ihn geküsst“, wirft Aoi trocken ein und wäre ich damals nicht selbst dabei gewesen, würde ich vermutlich so verdutzt aus der Wäsche schauen, wie Uruha es gerade tut.   „Und ich hab erwidert.“   „Ja~ lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen.“   „Es war nach einem Spiel. Reita war sauer, weil ich mich für die Nachspielzeit gegen ihn entschieden habe. Also haben wir uns mal wieder in die Haare bekommen. Unser Team kannte das schon und hat uns in Ruhe gelassen. Ich weiß gar nicht mehr, ob es einen konkreten Auslöser gab oder ob ich irgendwann einfach keinen Bock mehr hatte, mich zu prügeln. Reita lag unter mir und hat nicht aufgehört, mit Beleidigungen um sich zu werfen. Ich hatte den Klang seiner Stimme so satt, sag ich dir.“   „Wie, du magst meine Stimme nicht? Das ist jetzt schon hart.“   „Damals, Rei, damals.“ Aoi lacht und ich tue es ihm gleich.   „Auf jeden Fall habe ich ihn geküsst, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Was übrigens auch heute noch prima funktioniert, nur so als Tipp.“   „He~“, echauffiere ich mich. Uruha kichert, Aoi grinst nur frech. Gemeinheit. „Danach haben wir es tatsächlich mal mit reden versucht, und wer hätte es gedacht? Es hat so einiges in ein anderes Licht gerückt. Ein arroganter Schnösel war Aoi dann zwar immer noch, aber ich hatte für mich entschieden, dass er mein arroganter Schnösel ist.“   „Ich hatte kein Mitspracherecht.“   „Nope, daran hat sich nichts geändert.“ Ich lächle auf Aoi herab, der sich aufrichtet und mich mit einem Mal zu küssen beginnt, als gäbe es kein Morgen mehr. Ich seufze hingerissen, als ich keinen Moment später Uruhas warmen Atem an meinem Ohr fühlen kann und Finger, die wohltuend durch die kurzen Haare in meinem Nacken kraulen.   „Ihr seid unglaublich“, flüstert er und ich will ihm sagen, dass er es ist, der unglaublich ist. Aber seine Präsenz an meiner Seite ist zu verlockend, Aoi in meinen Armen fühlt sich zu gut an, als dass ich willens bin, Worte zu formen. Ich werde ihm einfach zeigen, wie wundervoll er ist, jede Sekunde jedes Tages, von jetzt an und so lange, wie er mich haben will. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)